Von Tobias Buchner
Landkreis Landshut. Im September 2014 lenkt Harald M. ( Name von der Redaktion geändert ) sein Auto aus der Einfahrt in die Nacht – von einem Tag auf den anderen ist er obdachlos. Im Lauf der Jahre macht ihm außerdem seine Gesundheit immer mehr zu schaffen. „Mei, mein Körper ist halt einfach kaputt“, seufzt er.
Inzwischen lebt Harald M. in einem Sechs-Parteien-Haus im Landkreis Landshut. Beim Besuch unserer Mediengruppe Ende November steht die Haustür einen Spalt offen, Harald M. trägt eine Schleifbrille und eine knapp über die Ohren reichende Mütze als Schutz vor Staub, Kälte und Wind. „Das tut mir nämlich gar nicht gut, da bekomme ich Atemprobleme“, erklärt er. Im Wohnzimmer setzt sich der 66-Jährige auf seine blaue Couch. Ein kleiner Plastik-Christbaum auf einer Kommode geht beinahe unter vor lauter Sprays, Medikamenten, Pillenschachteln und Taschentüchern.
Mit 45 Jahren muss er seinen Beruf aufgeben
„Als Kind hab ich mich im Sportunterricht manchmal gefragt, warum ich mich mit dem Schnaufen schwerer tue als andere Schüler“, erzählt er. Allzu viele Gedanken habe er sich aber nicht gemacht. Nach seiner Schulzeit arbeitet M. als Maschinenführer in Kieswerken und im Straßenbau: Er steuert Bagger und ist für das Abschieben von Kies zuständig, sagt er.
2003 ist plötzlich damit Schluss. „Ich hab mich auf einmal nicht mehr rühren können.“ Das Ergebnis der Ärzte nach mehreren Untersuchungen per MRT und Röntgen: „Da ist keine Bandscheibe mehr da“, erklärt M.
Mit 45 Jahren muss er seinen Beruf aufgeben. Die folgenden zehn Jahre, sagt Harald M., habe er in Elternzeit verbracht, mit seiner Ehefrau vier Kinder großgezogen.
Zu seinen Kindern hat er seit jeher eine innige Beziehung, zu seiner Frau nicht mehr. Obwohl die Ehe 2014 zerbricht, ziehen die beiden im Mai 2015 unter ein Dach. Harald M. wohnt damals in der Einliegerwohnung unter der Wohnung seiner Ex-Frau, die bereits einen neuen Lebenspartner hat.
Anfang September 2015 besucht Harald M. mit seinen beiden Kindern ein Volksfest in der Nähe, er habe die meisten Schausteller aus seiner Jugend noch gekannt. Seine Kinder dürfen deshalb umsonst Autoscooter oder „Breaker“ fahren. „Bis heute hab‘ ich noch ein ganzes Packerl Freikarten rumliegen“, sagt der 66-Jährige und deutet auf eine Kommode in seinem Wohnzimmer.
Als sie an dem Abend zurückkommen, treffen sie auf den neuen Lebenspartner von M.s Ex-Frau, der nicht glauben will, dass M. auf dem Volksfest alles umsonst bekommen habe. Es kommt zum Streit, das bereits zerrüttete Verhältnis erreicht einen Tiefpunkt. „Du bleibst heraußen, nur die Kinder gehen rein“, habe der neue Lebensgefährte der Ex-Frau gesagt. Gegen halb elf steigt er in sein Auto und fährt zu seinem Bruder. Vorübergehend kommt er in einem umgebauten Radlkeller unter, bevor er mit finanzieller Starthilfe der Gemeinde in eine Privatwohnung zieht – „damit ich über den Berg komme“.
Trotz gesundheitlicher Rückschläge arbeitet M. danach befristet bis Dezember 2016 als Bauhofmitarbeiter. Dann ist er fünf Monate arbeitslos, wohnt in dieser Zeit im zweiten Stock des Gemeindehauses. Mitte 2017 vermittelt ihm das Arbeitsamt eine Arbeitsstelle – ein Glücksfall für ihn. Nun arbeitet er an Garagenverkleidungen, erneuert Dachrinnen oder tauscht Scharbleche aus. „Hat mir viel Spaß gemacht“, sagt M.
Es ist die Woche um Allerheiligen, erinnert er sich, als es mit seiner Gesundheit rapide bergab geht. „Ich wollte in die Arbeit gehen, dann hat mein Sohn mich in der Früh ang’schaut und g’sagt: ‘Du gehst sofort zum Doktor.’“ Mehrere Wochen lang ist er krankgeschrieben, mittlerweile ist er Rentner und lebt vom Bürgergeld: „Das reicht aber hinten und vorne nicht.“
Tagelang im Koma und Wochen auf Intensiv
Auch viele Erinnerungen sind seit einer Lungenentzündung im Jahr 2022 verblasst und kommen nur mit der Zeit wieder. Auch von dem Tag, an dem er deshalb ins Krankenhaus eingeliefert wird, sind nur noch Bruchstücke übrig: „Ein Montag im Juli war’s, sauheiß war’s“, erinnert sich M.
Als seine große Tochter mit ihrem Freund vorbeikommt, ringt er am Fenster nach Luft. Sie zögern nicht und rufen den Notarzt. Doch Harald M. will gar nicht ins Krankenhaus. „Wer mog denn schon gern do hi?“, sagt er noch heute. Doch sein angehender Schwiegersohn rät ihm: „Wenn du weiterleben willst, musst du ins Krankenhaus, wenn du sterben willst, dann stirbst.“ M. holt noch einmal tief Luft – „ab da weiß ich nichts mehr“.
Mehrere Tage liegt er danach im Koma, über zwei Wochen lang auf der Intensivstation. Auch das Laufen und Sprechen muss er in der Folge erst wieder lernen – deshalb auch der Umzug vom zweiten in den ersten Stock. Auf den Füßen stehe er nach wie vor wacklig, wahrscheinlich auch wegen seiner Gürtelrose, meint der 66-Jährige.
Warum er sich auch trotz Wasser in den Beinen oder einer Spinalkanalverengung nicht unterkriegen lässt? Weil er eine Kämpfernatur sei, sagt Harald M. Mit verschiedenen Therapien, Medikamenten und ständigen Arztbesuchen meistert er seinen Alltag. Und er lässt nicht locker: „Wenn’s dich nämlich aufgibst, dann stirbst.“