Von Sophie Schattenkirchner
Straubing. Die Fotos auf dem Smartphone zeigen die 14-jährige Tochter: mit Pudelmütze, Winterstiefeln, eingewickelt in eine dicke Decke. Sie liegt auf Europaletten, um sie herum blanker Beton und eine kleine Neonröhre. Die ersten Nächte nach Kriegsbeginn verbrachte die Familie, die in einem Vorort von Kiew lebte, im zweiten Untergeschoss einer Tiefgarage. Es war eiskalt, unerträglich, erzählt ihre Mutter.
Dazu verschlechterte sich der Gesundheitszustand der älteren Tochter rapide. „Wir mussten gehen. Sie wäre gestorben“, erzählt die Mutter heute in gebrochenem Deutsch und mit stockender Stimme und Tränen in den Augen. Bei der 21-jährigen Tiermedizinstudenten hatten die Ärzte in der Ukraine Epilepsie diagnostiziert und sie dementsprechend behandelt. Der Krieg, die Angst und das Verharren in der Tiefgarage führten dazu, dass es der 21-Jährigen noch viel schlechter ging.
Also packte die 40-jährige Mutter die nötigsten Dinge in eine kleine Sporttasche: etwas Essen, Ersatzjacken, ein zweites Paar Hosen, Dokumente und die Medikamente gegen Epilepsie. Die Familie setzte sich in einen Zug und fuhr los. Über Polen gelangten sie nach Berlin. Mehrmals brach die 21-Jährige zusammen, war nicht mehr ansprechbar. Aber auf der langen Reise gab es immer wieder Menschen, die halfen, die sie trugen.
Die Tochter wurde in der Ukraine falsch behandelt
In Deutschland wurde die 21-Jährige in eine Klinik eingewiesen und mehrere Tage gründlich untersucht. Genau an ihrem Geburtstag erhielt sie die Nachricht: Sie leidet gar nicht an Epilepsie, wurde viel zu lang mit falschen Medikamenten behandelt. Noch heute, erzählt die 21-Jährige, fühle sich das an wie ein zweiter Geburtstag. Es sei das beste Geschenk überhaupt gewesen.
Über einen Freund fanden sie eine Unterkunft in Straubing. Hier leben sie seit April 2022. „Die Menschen in Straubing sind so nett“, sagt die Mutter, die Nachbarn seien freundlich, lächeln, grüßen. Die drei fühlen sich hier wohl – und vor allem sicher.
Die Mutter ist alleinerziehend, der Rest der Familie lebt noch in der Ukraine. Manche ihrer Freunde sind gestorben, viele kämpfen an der Front. In die Ukraine zurückzukehren, kommt für die drei nicht infrage. Die Fehlbehandlung der ukrainischen Ärzte und was das auf Dauer für die Tochter bedeutet hätte, schockiert die Familie bis heute. Die Mutter arbeitete in der Ukraine im Logistikbereich, die 21-jährige Tochter würde gern Tierärztin werden. Wie sehr ihr dieser Beruf liegt, sieht man daran, dass die Familie einen streunenden Kater aufgenommen und aufgepäppelt hat, und sich die Tochter liebevoll um eine Taube kümmert, deren Flügel verletzt ist. Die Mutter und die 21-Jährige belegen Deutschkurse, während die jüngere Tochter Deutsch in einer Brückenklasse an einer Straubinger Schule lernt.
Mehr Mobilität für die Familie
Sie sind dankbar für all die Hilfe, die sie hier erfahren haben. Nur eines, das bereitet ihnen große Probleme: Sie können sich kein Auto leisten, sind auf den Bus angewiesen. Die schlechten Verbindungen im öffentlichen Nahverkehr schränken die Familie ein. Sie hätten daher gerne drei Fahrräder, die sie sich aber in der aktuellen finanziellen Lage nicht kaufen können. Die Benefizaktion „Freude durch Helfen“ möchte ihnen diesen Wunsch erfüllen.
Am Heiligen Abend wollen es sich die drei gemütlich machen. Gemeinsam kochen sie traditionelle ukrainische Gerichte, verschiedene Salate, Sülze, Hering, dazu gibt es Kartoffeln. Sie werden einen kleinen Christbaum aufstellen und ihn dekorieren. „Wir wollen Filme ansehen“, erzählt die Mutter, „ein bisschen Musik anhören und vielleicht tanzen“. Ein wenig Unbeschwertheit, ein wenig Normalität nach einer schweren Zeit.