Von Laura Mies
Vor ein paar Monaten ist Lydia (Name von der Redaktion geändert) aus dem Kinderheim in das sogenannte betreute Wohnen der Caritas gezogen. Der erste Auszug bedeutet für viele junge Menschen Freiheit – auf den ersten Blick. Die wirkliche Freiheit ist oft mit Geld verbunden. Geld, das Lydia nicht hat. Geld, das auch ihre Eltern ihr nicht geben können. Geld, das sie dringend für einen Führerschein benötigt. Denn der könnte ihr in einem Leben voller Hürden ein bisschen Freiheit schenken.
Mit neun Jahren ist Lydia ins Kinderheim gekommen. Davor hat sie mit ihren zwei älteren Brüdern und ihrer Mutter auf engstem Raum zusammengewohnt, bis das Jugendamt die zwei jüngsten Kinder von dort rausgeholt hat. Zu wenig Platz, zu viel Alkohol, zu wenig Struktur – die Familie war zu zerrüttet, um dort aufzuwachsen. Ihr Vater saß zu diesem Zeitpunkt schon im Gefängnis und tut es heute immer noch. Ihre Mutter ist seit vielen Jahren schwer alkoholkrank.
Nur wenig Kontakt zu den eigenen Eltern
Zu ihren Eltern hat Lydia deswegen kaum Kontakt. Ihren Vater bekommt sie meist nur über Skype zu sehen oder tauscht mit ihm Briefe aus. Auch ihre Mutter sieht sie aufgrund der Erkrankung selten. „Wenn sie trinkt, möchte ich nicht bei ihr sein, es nimmt mich zu sehr mit. Dann sagt sie immer verletzende Sachen.“
Die Strukturen, die es bei ihrer Familie nicht gibt, versucht man im Kinderheim für Lydia und ihren Bruder zu schaffen. Es wird zu geregelten Uhrzeiten gegessen, jedes Kind hat Dienste zu erledigen, es müssen rechtzeitig Anträge ausgefüllt werden, um weiter finanzielle Hilfe zu erhalten, die Kinder müssen rechtzeitig Bewerbungen schreiben, kommt man zu spät, hat das Konsequenzen.
Lydias Leben sieht auf einmal völlig anders aus. Anders, als sie es gewohnt war und anders, als es andere in ihrem Alter erleben. Ihr Bruder, der mit ihr ins Heim gekommen ist, war anfangs ihre einzige Vertrauensperson. Doch auch er war irgendwann nicht mehr da, als er von der Kinder- in die Jugendgruppe wechselte. „Ich hatte keine Vertrauensperson mehr bei mir. Ab da war ich auf mich allein gestellt, ich habe mich auch sehr allein gefühlt. Mein Bruder und ich haben davor oft alles zusammen durchgezogen und dann war er weg.“
Jetzt, acht Jahre später, hat Lydia eine Ausbildung im Bereich der Verwaltung begonnen. Es scheint, als hätte sie die Strukturen, die sie beigebracht bekommen hat, in ihren Alltag und ihre Persönlichkeit aufgenommen. Das, was sie in ihrem Leben selbst gestalten kann, hat sie unter Kontrolle. Sie hat dieses Jahr ihren Abschluss an der Realschule erfolgreich bestanden, auch ihren Alltag seit dem Auszug hat sie im Griff. Selbst, wenn sie von ihrer Geschichte spricht, wirkt sie gefasst, als wäre es gar nicht ihr Leben, von dem sie da gerade erzählt.
Der Weg dahin war für sie nicht immer einfach. In unzähligen Situationen bekommt Lydia gezeigt, wie behütet andere Kinder aufwachsen, wie privilegiert sie im Gegensatz zu ihr sind. Sie hingegen ist ohne Eltern erwachsen geworden, stigmatisiert ein Leben lang. Denn das, was für Kinder und Jugendliche aus guten Verhältnissen schon schwer ist, ist für Kinder aus dem Heim meist noch schwerer. „Heranwachsende aus dem Kinderheim können sich schlecht eigene Rücklagen bilden, weil die eigenen Eltern meist selbst nicht viele haben. Lydia muss sich gerade alles selbst finanzieren“, sagt ihre Betreuerin. Etwa 800 Euro Ausbildungsgehalt und 400 Euro Unterstützung durch das Jugendamt stehen Lydia zur Verfügung. Ein Führerschein kostet in Bayern zwischen 3 000 und 4 000 Euro. Das selbst zu finanzieren kann funktionieren – aber nur, wenn Lydia neben all den Ausgaben, die sie sonst für den Alltag hat, einen strikten Sparplan einhält. Kleidung, Essen, Hygieneartikel, Handyvertrag, ein Laptop für die Schule oder Fahrkarten muss sie selbst zahlen. Zwischendurch möchte sie sich auch mal etwas gönnen, so wie eine Maniküre zum Beispiel. Denn Lydia möchte auch einfach mal Teenagerin sein, in einem Leben, das sonst hauptsächlich Erwachsensein und Reife von ihr abverlangt. Wenn Lydia volljährig ist, fallen die Zuschüsse durch das Jugendheim weg. Auch der Mietvertrag für die Wohnung, die sie derzeit bewohnt, ist begrenzt. Gerade eingezogen und trotzdem auf Wohnungssuche: „Der Wohnungsmarkt ist schon für Leute aus guten Verhältnissen extrem. Für junge Menschen aus sozialen Notlagen ist er aber umso prekärer“, erzählt ihre Betreuerin. Vermieter würden ungern junge Erwachsene, die aus einer sozialen Einrichtung ausziehen wollen, ihre Wohnung vermieten wollen. Stigmatisierungen und Vorurteile stellen sich, wie so oft, in den Weg der Betroffenen. In einem Alltag, in dem Lydias Möglichkeiten sonst so begrenzt scheinen, würde ein Führerschein eine enorme Erleichterung darstellen. Sie könnte allein zum Einkaufen fahren, ohne ihr Fahrrad dafür vollpacken zu müssen. Sie könnte abends mit Freunden Spritztouren unternehmen. Sie könnte mit dem Auto zur Berufsschule fahren, die über eine Stunde entfernt liegt. Was sich Lydia sonst für ihre Zukunft wünscht? „Ich will meine Ausbildung abschließen, in dem Betrieb vielleicht sogar weiterarbeiten. Eine schöne Wohnung und einen netten Partner finden – und irgendwann mal Katzen haben. Das wäre auch schön.“